von Alexandru Moldovan, E-Phase, Kaiserin-Friedrich-Gymnasium
Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit in der Kurstadt Bad Homburg, da lief Flynn die Louisenstraße entlang. Mit ihm waren hunderte Bürger diesen Morgen auf dem Weg zur Arbeit. Im Gleichschritt marschierten sie neben den unzähligen Geschäften. Bald war Weihnachten. ErAlle verkauften sie Dekorationen und Schmuck aus Lagerbeständen, doch niemand wollte etwas dergleichen haben. Jeder sah an den bunten LEDs der Stände vorbei, jeder sah auf den Boden, jeder war für sich. So auch Flynn.
Bei seinem Büro angekommen, erwartete sein Chef ihn schon. Mit finsterer Miene sah er auf Flynn herab.
<<Herr Stahl, fünf Minuten zu spät.>> meckerte er. <<Beim nächsten Mal maße ich es mir an, solch untolerierbares Verhalten zu sanktionieren.>>
<<Tschuldigung.>> entgegnete Flynn knapp. Am liebsten hätte er sich dieser Schikane entzogen.
Nach etlichen Überstunden wurde Flynn um 19 Uhr endlich in den Feierabend entlassen. Es war schon dunkel. Draußen regnete es in Strömen. Flynn machte sich auf den Weg nachhause. Die Straße wirkte fast leergefegt. Bei dem Wetter wollte niemand überhaupt nach draußen. Zu öde, zu kalt, zu nass und letztendlich zu spät. Bald war Weihnachten. Niemanden kümmerte es.
Hundemüde rieb er sich seine Augen. Genau in diesem Moment vernahm Flynn etwas Merkwürdiges. Durch die eigentlich undurchdringbare Wolkendecke leuchtete ein goldenes Licht auf die Straße herab. Flynn blieb stehen und betrachtete den geheimnisvollen Strahl. Er leuchtete wie eine Straßenlaterne, nur heller. Einige Sekunden vergingen und der Lichtkegel fing an, sich durch die Louisenstraße zu bewegen. Flynn beschloss, ihm zu folgen.
Nach und nach legte er an Tempo zu. Erst schlenderte das Licht mit Schrittgeschwindigkeit durch die Gassen Bad Homburgs. Dann jedoch beschleunigte es schlagartig und Flynn musste ihm hinterher flitzen. Durch den Regen, vorbei am Kurhaus. Hin und wieder rannte er durch eine Pfütze. Doch im jetzt hatte er nur Augen für das Licht. Einige Zeit später fand Flynn sich vor dem Landgrafenschloss wieder. Er war völlig außer Atem. Erschöpft blickte er auf das elegante Schloss. Hinter der royalen Fassade ragte der weiße Turm empor. Selbst im Dunkeln stachen seine hellen Mauern heraus. Flynn legte die letzten Meter zum Innenhof zurück. Dort musste sich das Licht verzogen haben, er war sicher.
Angekommen peitschten ihm eiskalte Flocken ins Gesicht. Schnee! Verwundert blieb er stehen, um das Spektakel zu betrachten. Ihm bot sich ein idyllisches Bild, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte: Eine weiße Decke breitete sich über Boden und Dächer aus. Obwohl keine Lampe brannte, war es hell. Alle Geräusche wirkten gedämpft. Bis auf das leise Rieseln des Schnees, war es absolut still.
Vor der Treppe, die den Turm hinaufführte, stand ein kleines Mädchen. Seine blonden Haare reichten ihr bis zu den Schultern und die Konturen glänzten golden.
<<Du bist Flynn, ja?>> fragte die Kleine.
<<Ja.>> antwortete er, während er sich fragte, was sie um diese Uhrzeit alleine trieb. Wo waren denn überhaupt ihre Eltern?
<<Ich bin der Stern der Weihnacht und habe eine Bitte an dich.>>
<<Der was?>>
<<Hör mir zu. Du kennst doch bestimmt Weihnachten, oder?>>
<<Äh, ja. Ist der Tag, den niemand mehr feiert.>>
<<Genau. Weißt du, vor einiger Zeit starb hier im Weißen Turm eine Prinzessin. Sie war wunderschön und besaß die Macht, es schneien zu lassen. Sie brachte den Menschen immer den Winter. Am 24. Dezember lief sie durch die Stadt und beschenkte alle. Doch da war auch ihr Vater. Ein großer und mächtiger Mann mit viel Geld. Er war einflussreich und mochte nicht, dass alle immer feierten. Lieber sollten sie arbeiten und sich auf das „Wichtige“ konzentrieren. Also wollte er Weihnachten ein Ende bereiten und setzte seine Tochter aus. Tage sind vergangen und sie musste draußen im Schnee frieren, den sie selbst gemacht hatte. Am Ende war sie gestorben, genau hier. Mit ihr starb auch Weihnachten und die Menschen wurden unglücklich.>>
Eine kurze Stille trat ein.
<<Nun liegt es an einem Auserwählten, das Schicksal zu ändern und die Winterfreude der Menschen zurückzuholen. Ob du das machen willst, entscheidest du selbst.>>
Mit diesen Worten flammte das Licht ein letztes Mal auf, bevor die Kleine allmählich verpuffte. Eine schöne Legende, dachte Flynn. Er spürte die Schneeflocken auf sein Gesicht fallen.
Bald war Weihnachten.
Am nächsten Tag fackelte Flynn nicht lange. Draußen regnete es wie gehabt. Aber das hielt ihn nicht davon ab, seine dicke Jacke anzuziehen und früh morgens loszumarschieren. Rasch machte er sich auf in die Innenstadt. Dort legte er eine Verschnaufpause ein und blickte hin und her. Um ihn herum waren die Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Er jedoch hatte etwas anderes vor. Ohne Umschweife begab er sich in den nächsten Laden.
Flynn hatte die Zeit aus den Augen verloren. Erst Stunden später als gewöhnlich erschien er bei der Arbeit. Mit seinen zehn Einkaufstüten war er heute der Blickfänger in seinem Büro. Allerdings ließ er sich davon nicht beirren.
Flynn stellte seine Taschen ab und begann, den Kram auszupacken. Von roten Kugeln mit Rentiermustern bis zu grünen Girlanden mit bunten Lämpchen war alles dabei. Heute würde er seinen Arbeitsplatz dekorieren.
Gerade als er den kleinen Tannenbaum aus Plastik rausholte, erschien sein Chef in der Tür.
<<Und schon wieder. Nicht nur, dass Sie erneut zu spät erschienen sind. Wohl hat dies Ihnen nicht gereicht, wie es scheint.>>
Zornig lief er an den Pult und riss eine braune Papiertüte runter. Unerträgliches Scheppern machte sich im Büro breit. Glasscherben verteilten sich über den Gesamten Teppich. Köpfe von Zauberelfen rollten durch den Flur.
<<Sie wagen es also noch mein Büro zu verunstalten? Was vermag ich denn noch zu sagen? Hiermit sind sie ihrer Arbeitsstelle fristlos verwiesen. Packen sie ihr Hab und Gut. Ich möchte Sie im Nu vor der Tür sehen. >>
<<Aber, es ist doch bald Weihnachten!>> widersprach Flynn. <<Ist es nicht viel schöner, einfach mal zu feiern? Zumindest dieses eine Mal im Jahr?>>
<<Desolé, aber ich glaube nicht an Transzendentes. Alberne Legenden von Geschenk, Freude und der Magie eines heiligen Abends, welch ein Irrsinn! Fokussieren Sie sich auf die Dinge von Belang, Herr Stahl.>>
Damit wandte er sich von Flynn ab, ohne auch nur ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln.
Mittag. Glocken läuteten, Kinder spielten auf der Straße. Karl sah auf seine Dokumente. Ja, dieses Jahr hatte viele Früchte getragen. Er schwamm förmlich in Geld und materiellen Besitztümern. All das konnte sein eigentliches aber Problem nie lösen. Nach außen hin gab er sich stark. Na klar, wie sonst durfte er sich als der Vorsitzende eines der mächtigsten Unternehmen weltweit geben? Völlig am Ende vom vielen Arbeiten rieb er sich seine Augen. Mitte vierzig sah er aus, wie ein Rentner. Jahre war es schon her, dass er den heiligen Abend zusammen mit jemandem verbracht hatte. Und es tat weh. Bis heute fühlte er sich schuldig. Schuldig, seine eigene Tochter ausgesetzt zu haben. Einst sein wertvollster Schatz und sein größtes Glück. Getauscht für etwas Vergängliches.
Plötzlich riss ein Klopfen ihn aus der Starre. Karl erhob sich schweren Herzens von seinem Stuhl und öffnete die massive Tür aus Mahagoni. Draußen stand niemand. Bloß ein einsames Paket thronte vor seinem Haus. Mühselig schleppte Karl das Päckchen ins Warme. Er hielt einen Moment inne. Wer war der Absender nur? Viel wichtiger, wer schenkte einem verbitterten alten Mann wie ihm überhaupt etwas? Behutsam öffnete er das Paket und fand eine Schneekugel innendrin. Sie beherbergte den weißen Turm und einen Weihnachtsmann, der mit seinen Rentieren Kreise drumherum flog.
„Von Flynn Stahl, fröhliche Weihnachten“ stand auf einem Etikett geschrieben.
Unwillkürlich musste er lächeln. Ausgerechnet er.
Es war Weihnachten. Die Glocken hörten auf zu läuten. Still und leise fielen die ersten Schneeflocken auf Bad Homburg.
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